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Fahrrad, Feldstein und Fontane

Ende Oktober 2020: Corona in Deutschland ist 10 Monate alt. Einen Urlaub, wenn auch nur einen kurzen, hatte ich – trotz oder wegen Corona - bitter nötig! Meine Vorstellungen vom Reiseziel: keine lange Anfahrt, ein möglichst einsames Fleckchen in der Natur – entweder am Meer oder mitten im Wald. Eine Freundin schlug mir vor: „Versuchs doch mal mit Ihlow.“ „Iii-l-ooo?“ „Ihlow!“ Davon hatte ich noch nie gehört. Das Internet kannte Ihlow. Das Internet kennt viele Ihlows.

Mein Ihlow liegt in der Märkischen Schweiz. Mein Ihlow liegt auf einer Hochfläche, dem Barnim. Mein Ihlow liegt zwischen Berlin und Oderbruch. Ziemlich genau in der Mitte. Es befindet sich also kurz vor Polen, aber eben auch kurz hinterm Alex. – Und: Mein Ihlow hat 160 Einwohner*innen. Dort mietete ich eine kleine Ferienwohnung.

Vom Berliner Hauptbahnhof gelangte ich mit dem Fahrrad nach Ihlow. Über Mauerradweg, Konnopkes kultige Currywurst-Bude in Prenzlauer Berg (Nur Gucken!), Alt-Marzahn (das Dorf am Fuße der riesigen DDR-Plattenbausiedlung) und Neuenhagen mit seinem Rathaus im Wasserturm fuhr ich nach Strausberg. Die dortige „Milchbar“ am Markt wirkte sympathisch. Als ich reinschaute, bereiteten die beiden Frauen, die das Café führen, dieses gerade auf den zweiten Lockdown vor. Es sei schon alles abgestellt, sagten sie. Nach kurzem Überlegen bot mir die eine (die Mutter) Kartoffeln und Quark an und die andere (ihre Tochter) nahm die Kaffeemaschine wieder in Betrieb. (Danke!)

Eine Feldstein-Fassade
Eine Feldstein-Fassade

In Strausberg-Nord beginnt die Oberbarnimer Feldsteinroute, eine ca. 40 Kilometer lange Rundtour durch Dörfer der Region mit alten Gebäuden aus Naturstein. Ich folgte dieser Strecke zunächst auf wenig befahrenen Land- und Fahrradstraßen, danach auf holprigen Wald- und Feldwegen. Eines hatte ich nicht bedacht: Die Uhren waren ein paar Tage vorher um eine Stunde zurückgestellt worden. Um 4 Uhr am Nachmittag begann es, bereits zu dämmern. Im Wald begegneten mir zwei Rehe. Danach hielt ich die Lenkergriffe fester und trat kräftiger in die Pedale. Kurz bevor die Dunkelheit bedrohliche Schwärze annahm, erreichte ich Ihlow.

 

Die kleine Ferienwohnung (Motto: „Zu Gast beim Künstler“) befindet sich in einer alten Feldsteinkate. Kein einzelnstehendes, windschiefes Etwas auf dem Acker, sondern ein behutsam saniertes, 160 Jahre altes Häuschen in einer Reihe gleichartiger Gebäude entlang einer kleinen, kopfsteingepflasterten Dorfstraße, die – recht ambitioniert – Ihlower Ring heißt. Heute würde man die Kate ein „Reihenendhaus“ nennen. Doch diese Sachlichkeit täte dem Häuschen unrecht. Es ist so gar nicht nüchtern, sondern sehr charmant. In der Ferienwohnung gibt es viele Bilder, eine Wärmflasche, einen Espresso-Kocher und keinen Fernseher! - Der Künstler war nicht da.

Impressionen der Ferienwohnung

Am nächsten Morgen regnete es. Und das sollte auch den ganzen Tag so bleiben, meinte die Wetter-App. Allerdings musste ich noch einkaufen. Buckow, zehn Fahrradkilometer entfernt, schien mir eine gute Wahl. Dort, im Kneipp-Kurort, würde es ja wohl einen Supermarkt geben. Ich hatte Buckows Größe überschätzt: Es hat weniger als 1500 Einwohner, und der Supermarkt erwies sich als kleiner Edeka. Nicht ganz das, was ich erwartet hatte. Doch ich war kompromissbereit und bekam alles, was ich brauchte.

Das Brecht-Weigel-Haus in Buckow ist ein sehr schönes Haus in perfekter Lage am Schermützelsee. Dennoch war für mich nicht viel zu entdecken. Das Beste: Die Aussicht durch das riesige Atelierfenster in den Garten. Interessanter als die Villa war das kleinere Gebäude in Ufernähe, das sich ausschließlich dem Brecht-Stück „Mutter Courage“ widmet. Es zeigt den Original-Planwagen, den die Weigel jahrelang über Bühnen zog, bis sie es altersbedingt nicht mehr schaffte sowie Theaterplakate dieses Stückes aus aller Welt. Tonaufnahmen kann, wer mag, per Knopfdruck starten.

Für die Rückfahrt von Buckow nach Ihlow war ich auf der Suche nach einer besonders schönen Route. Der Mitarbeiter in der Tourist-Information dachte halblaut und nur für mich über verschiedene Wege nach. Ich wählte die naturnahe Strecke durch den Schlosspark, über die „Kalorienpromenade“, durchs Stobbertal und dann über Pritzhagen nach Ihlow. So der Plan. Nach zwanzig Minuten sah mich die Tourist-Information wieder. Bereits den Einstieg zum Schlosspark musste ich wohl verpasst haben!

Das halblaute Nachdenken ging in die zweite Runde. Beim Blick auf die Uhr wurde ich unruhig, denn der kleine Zeiger rückte der Vier bereits gefährlich nahe. Auch der Herr von der Tourist-Information wirkte besorgt: „Aber Licht haben Sie? Nicht, dass Ihnen noch was passiert!“ Diesmal entschied ich mich gegen Schönheit und für leichte Orientierung. Ich wählte asphaltierte Serpentinen. - Haarnadelkurven wie in der Schweiz! Bloß nicht so viele.

Am darauffolgenden Tag widmete ich mich ausgiebig der Feldsteinroute (Ihlow – Reichenberg – Pritzhagen – Buckow – Bollersdorf – Ernsthof – Grunow - Ihlow). Mein Fahrrad rumpelte über Kopfsteinpflaster, quälte sich durch aufgeweichte Wald- und Feldwege, wurde von Regentropfen geküsst und versank im Stobbertal und am Tornowsee bis kurz unterhalb der Nabe in Pfützen. Hier musste ich schieben, was wiederum meine Lederschuhe übelnahmen.

Buckow streifte ich an diesem Tage nur. Ich passierte das dortige Hotel „Johst am See“, welches neben seinem Beherbergungs- und Verpflegungsauftrag scheinbar auch ein pädagogisches Anliegen hatte. Es verkündete in einem Schaukasten, dass sein Restaurant aufgrund undisziplinierter Restaurantbesucher*innen, die die Corona-Regeln nicht beachtet hätten, geschlossen bliebe, das Hotel aber geöffnet sei.

Zurück in Ihlow traf ich erstmals meinen Vermieter, den Künstler Udo Hagedorn. Wir verabredeten uns für den frühen Abend in seiner Kunsthalle. In der Zwischenzeit stattete ich dem Café im örtlichen Biohof einen Besuch ab. Meine Bilanz: 6,50 EUR für einen Latte und ein Stück Kuchen in Selbstbedienung, Kaffee und Kuchen waren in Ordnung, dem Raum fehlte ein wenig Wärme und dem Service ein Quäntchen Herzlichkeit. Überaus attraktiv kam der Außenbereich in bunten Herbstfarben daher.

Punkt 17:00 Uhr trat ich aus meiner Ferienwohnung hinaus auf die Straße. Ein paar Meter weiter öffnete ich das kleine Tor zum Hof, durchquerte diesen mit wenigen Schritten und stand vor den ehemaligen Ställen, die nun Kunsthalle sind. Ich kam in den Genuss einer Sonderöffnung, denn die Galerie hatte bereits Winterpause. Im hell erleuchteten Weiß der Kunsthalle war es kälter als draußen. Das beeinträchtigte meinen Besuch nicht. Der Künstler zeigte seine Gemälde, ich konnte mich umsehen und fragen. Wir kamen gut ins Gespräch!

Einen Tag später endete mein Aufenthalt mit der 18 km langen Fahrt auf dem Fahrrad von Ihlow, über Reichenow, Prädikow, Kähnsdorf, Klosterdorf nach Strausberg. Zwei Stopps legte ich ein: Gleich zu Beginn einen Fotostopp auf dem novembergelben Sonnenblumenfeld zwischen Ihlow und Reichenow, bei dem ich mir nasse Füße holte. In Prädikow besuchte ich die (Feldstein!) Kirche. Das Wandbild hinterm Altar verblüffte mich. Stilistisch hätte es in ein Kulturhaus der DDR in den 50er Jahren gepasst. Thematisch nicht, denn es zeigt eine Abendmahlsszene. Diesen scheinbaren Widerspruch löste das allwissende Internet für mich auf. Es meint, das Kunstwerk sei ein Sgrafitto aus dem Jahr 1952 oder 1955. (Da widersprechen sich die Quellen.) Einig sind sie sich bezüglich des Urhebers: es sei der Rostocker Künstler Lothar Mannewitz.

Zum Schluss führte mich die Feldsteinroute noch über den Flughafen Strausberg. Kurz darauf erreichte ich Strausberg-Nord. Ab hier fährt die S-Bahn im 20-Minuten-Takt nach Berlin Hauptbahnhof.

Soviel zu Fahrrad und Feldstein. Und Fontane? Der setzte Buckow und der Märkischen Schweiz ein literarisches Denkmal mit seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Fünf Bände, 2.464 Seiten und 2.802 Gramm kommen für mich – eigentlich - nicht in Frage. Aber: Meine heimischen Bibliotheken haben das Werk im Bestand. Ich könnte ja mal darin blättern…

 

Links:

Udo Hagedorn: www.udo-hagedorn.de

Die Oberbarnimer Feldsteinroute: www.oberbarnimer-feldsteinroute.de

Das Brecht-Weigel-Haus Buckow: www.brechtweigelhaus.de

Milchbar Strausberg: https://de-de.facebook.com/pages/category/Coffee-Shop/milchbar-Strausberg-317369748403924/

(Alle o.g. Seiten besucht am 11.11.2020.)