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Auf dem Jakobsweg zu Fuß durch Sachsen: So schön kann langsam sein (Teil 1)

Was bringt eine Frau in mittleren Jahren (in den besten Jahren!) dazu, Job und Familie hinter sich zu lassen, und sich allein zu Fuß auf den Weg zu machen einmal quer durch Sachsen? Was gibt es eigentlich zu entdecken entlang der Pilgerstrecke von Görlitz nach Leipzig? Und wie ergeht es einer Atheistin auf dem Jakobsweg?

 

In Görlitz beginnt der Ökumenische Pilgerweg, der Teil eines beachtlichen Netzes von Jakobswegen in Europa ist. Er führt durch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und endet im südthüringischen Vacha. Ich habe im Sommer 2015 die Strecke zwischen Görlitz und Königsbrück und im Februar 2016 die Strecke zwischen Königsbrück und Leipzig zu Fuß zurückgelegt, insgesamt ungefähr 230 km.

 

Anlass für meine Sommertour durch die Oberlausitz war eine kurzfristig abgesagte Urlaubsreise. Die neue Erfahrung des Pilgerns und die schöne Landschaft machten es mir einfach, den Alltag hinter mir zu lassen. Ich konnte sofort abschalten. Der Weg war technisch anspruchslos, da konnte man leicht in einen meditativen Zustand geraten. Das war Genusspilgern pur!

 

Datum: 31.08.2015, Strecke: Görlitz – Arnsdorf, Entfernung: 18,5 km, Wetter: weit über 30°C und sonnig, Wasser: 6 Liter, Befinden: euphorisch und voller Vorfreude auf die erste Pilgeretappe

Ich begann meine Pilgerreise mit einem morgendlichen Stadtrundgang durch das hochsommerliche Görlitz. Viele Gassen der Altstadt waren noch menschenleer. Am Untermarkt, am Obermarkt und in der Fußgängerzone dazwischen war die Stadt jedoch bereits erwacht und wurde von Minute zu Minute geschäftiger. Weil ich mental schon auf Pilgern, Natur und Alleinsein eingestellt war, verließ ich Görlitz daher bald. Über die Heilig-Grab-Straße und vorbei am Klinikum lief ich in Richtung Ebersbach. In Ebersbach steht die einstige Wallfahrtskirche St. Barbara mit ihrer bemerkenswerten - weil einzeln stehenden! - Säule im Kirchenschiff. Weiter ging es über die Königshainer Berge bis zum Hochstein-Felsen aus Lausitzer Granit. Es war wahnsinnig heiß, die Temperaturen erreichten ca. 37°C, es gab keinen Wind, der kühlte, und Schatten war selten. Ich trug einen Sonnenhut mit riesiger Krempe und trank fast 6 Liter Wasser am Tag. Mehrmals musste ich bei fremden Leuten klingeln und sie bitten, meine Wasserflasche aufzufüllen. Erstaunlicherweise machte mir die Hitze ansonsten wenig aus. Also doch alles eine Frage der Einstellung? In der Hochsteinbaude, einer Ausflugsgaststätte auf dem Hochstein, wurde ein preiswertes Pilgeressen angeboten. Aber bei diesen Temperaturen hatte ich keinen Appetit auf Nudeleintopf. Ich gönnte mir stattdessen im Schatten auf der Terrasse Kaffee und Kuchen. Bevor ich weiterzog, ließ ich mir von den freundlichen Wirtsleuten meine Wasserflasche auffüllen – zweimal sogar! Gestärkt pilgerte ich weiter nach Arnsdorf. Zunächst ging es durch den Wald, die Bäume spendeten Schatten. Bald erreichte ich ein umgepflügtes Feld, die Traktoren hatten tiefe Reifenspuren hinterlassen, am Horizont war eine Baumreihe zu erkennen und am Himmel zeigten sich zaghaft die ersten, kleinen Wölkchen. Es war trocken und windstill, und die Luft war auch am späten Nachmittag noch immer heiß. Der Weg nach Arnsdorf führte mich weiter an einem Maisfeld entlang. In einiger Entfernung erblickte ich zwei weitere Pilger. Ihnen sollte ich noch öfter begegnen.

Görlitz: Die Badenden

Der Arnsdorfer Pfarrhof ist ein idyllischer Dreiseitenhof mit viel Grün – auch an den Hausfassaden, mit lauschigen Sitzecken und blühenden Kübelpflanzen. In einem Flügel des Hofs ist die Pilgerherberge untergebracht, im anderen die Pfarrhofscheune mit dem Landkino, dazwischen befindet sich das Pfarrhaus. Ich hatte Glück, es war Montagabend und somit Montagskino in Arnsdorf. Gezeigt wurde „Anton der Zauberer“ mit Ulrich Thein, ein DEFA-Spielfilm aus den 70er Jahren. Darin geht es um Anton, ein Schlitzohr mit einer Vorliebe für Autos, Frauen und Alkohol, der als umtriebiger Automechaniker viel Geld machte… Aber, sehen Sie selbst! - Das Landkino Arnsdorf ist eine Institution in der Region. Abgesehen vom ausgesuchten Filmangebot, ist die Atmosphäre einzigartig. In der Kinoscheune sitzt man auf alten Kirchenbänken, ist vom unverputzten Natursteinmauerwerk der Außenwände umgeben und kann bis in den First des alten Dachstuhls blicken. Mehrere Sitzecken mit Möbeln, die ausschauen, als wären sie aus Großmutters Küche und guter Stube, laden ein sich niederzulassen, zu schwatzen, zu trinken oder einfach nichts zu tun. Es ist behaglich, man fühlt sich dort wohl. An den Wänden hängen historische Filmplakate. Ein nettes Imbiss- und Getränkeangebot vor und nach dem Film sowie in der Pause tut sein Übriges, und ein Schwedenfeuer in lauer Sommernacht ist auch nicht alltäglich.

 

Datum: 01.09.2015, Strecke: Arnsdorf - Gröditz, Entfernung: 18 km, Wetter: weit über 30°C und sonnig, leichter Wind, Wasser: 6 Liter, Befinden: sehr gut und auf das Pilgern bestens eingestimmt

Vorbei an den Feldern von Arnsdorf den Kirchturm noch einige Zeit im Blick setzte ich meine Wanderung fort. Ich passierte das Wasserschloss von Döbschütz und erreichte Melaune - zunächst die Wassermühle mit ihren Hochwassermarken des Schwarzen Schöps und schließlich die Kirche. Vom Kirchhof aus bot sich ein Blick über abgeerntete, aber noch nicht umgepflügte Felder auf etliche Windräder. Das Innere der Kirche beeindruckte mich aufgrund seiner Schlichtheit: Eine weiße Dorfkirche, nahezu schmucklos. Einzige Schmuckelemente sind die wenigen, goldfarbenen Verzierungen an Emporen und Orgel sowie die in kräftigem Rot gehaltenen Bankauflagen im Kirchenschiff. Ein prächtiger Farbtupfer! Die Bänke auf den Emporen hingegen sind karg und ohne Auflagen, nur vereinzelt findet man Sitzkissen vor. Der Weg führte mich weiter über ein Feld zwischen Melaune und Buchholz, vorbei an wildwachsenden Kürbissen und vielen Sonnenblumen. Neben Windrädern hatte man dort ein großes Holzkreuz errichtet. Es erinnert daran, dass hier eine Sondermülldeponie angelegt werden sollte. Das Dorf widersetzte sich erfolgreich. Schließlich erreichte ich Buchholz mit seiner hübschen Dorfkirche. Ich habe den Aufenthalt richtiggehend genossen, bin in der Kirche umhergestreift und war sogar hinter dem Altar. Mein nächster Halt war Weißenberg. Hier gibt es das Museum „Alte Pfefferküchlerei“, welches über das Handwerk des Pfefferkuchenmachens informiert. Der Eingangsbereich ist mit alten Bauernmöbeln eingerichtet und hübsch dekoriert mit vielen bunten Pfefferkuchen, die an langen Bändern aufgehängt sind. Das machte auf mich einen einladenden Eindruck, ein Eindruck, den die diensttuende Dame schwer beeinträchtigte, indem sie wiederholt ihren verschiedenen, ziemlich abwegigen Bedenken Ausdruck verlieh. („Sie dürfen die Verkaufstheke schon fotografieren, aber dass Sie mir die Theke nicht nachbauen! Das hat schon mal einer gemacht.“) Das Museum selbst, was auf den Eingangsbereich folgte, beeindruckte mich kaum. Vor allem ist mir Weißenberg in Erinnerung geblieben, weil vor der Pfefferküchlerei die einzige Bank auf dem Marktplatz stand, die Schattenplätze bot. Eine Gelegenheit, die sich bei diesen tropischen Temperaturen kein Pilger entgehen ließ! Durch die schön schattige, dafür aber mückenreiche Gröditzer Skala mit dem Löbauer Wasser gelangte ich zum Endpunkt dieser Tagesetappe: Gröditz. Im ehemaligen Waschhaus des Gröditzer Schlosses wurde eine Pilgerherberge, das Refugio Santa Martha, mit sechs Betten eingerichtet. Wir waren in dieser Nacht zu dritt.

Am Schloss Gröditz

Datum: 02.09.2015, Strecke: Gröditz - Bautzen, Entfernung: 18 km, Wetter: weit über 20°C, zeitweilig sonnig, zeitweilig leicht bewölkt, Wasser: 3 Liter, Befinden: voller Tatendrang am Morgen, leidend am Abend und nur zu leidenschaftslosen Alibi-Fotos in Bautzen in der Lage (Schade!)

Da ich Inge und Frank, meine „Zimmerteiler“ der vergangenen Nacht, nun schon mehrere Male beim Pilgern begegnet war und wir uns auf Anhieb gut verstanden hatten, beschlossen wir, die Strecke von Gröditz nach Bautzen gemeinsam zu laufen. Doch zunächst frühstückten wir in der Herberge. Die sympathische Herbergsmutter verwöhnte uns, und das genossen wir sehr. Sie setzte sich zu uns an den Frühstückstisch, trank eine Tasse Kaffee mit uns, und wir plauderten angeregt. Wir verließen Gröditz, nicht ohne ein paar Abschiedsfotos von uns und der Herbergsmutter zu machen, und wandten uns Richtung Wurschen mit seinem Wasserschloss und dann nach Drehsa mit Schlosspark, Schloss und dem restaurierten ehemaligen Wasserturm. Die Landschaft: nach wie vor lieblich. Wir liefen weiter über Wiesen, die Wege wurden links und rechts von Obstbäumen flankiert. Zu dieser Jahreszeit musste kein Pilger hungern. Anfang September waren zwar die Felder leer, aber die Obstbäume trugen schwer. Kurz vor Bautzen stand ein Lieferwagen auf dem Feldweg. Wir mussten an ihm vorbei. Die Schiebtür des Wagens stand offen. Ein Handwerker, der darin gerade seine Pause machte, reichte uns Pilgern aus dem Fahrzeug wortlos ein eisgekühltes Mineralwasser. Ahhhhh! - Ins Zentrum von Bautzen führt der Pilgerweg größtenteils sehr unschön entlang der Bundesstraße, daher kämpften wir uns durch das „Hinterland“ zu unserer Herberge. Den Schlüssel für die Pilgerwohnung im Evangelischen Kirchgemeindehaus St. Petri holten wir in einer nahegelegenen Bäckerei. Das nenne ich unbürokratisch!

Zwei Pilger bei Drehsa

Nahezu jeder Pilger hat irgendwann physische (oder psychische) Probleme. Die häufigsten Beschwerden sind natürlich Blasen an den Füßen oder Gelenkschmerzen. In Bautzen war es bei mir soweit: Ich fühlte mich richtig schlecht. Der Grund waren wahnsinnig entzündete Waden. Sie glühten und waren oberhalb der Knöchel geschwollen. Das war kein Sonnenbrand! Die Probleme hatten schon am Abend des ersten Pilgertages begonnen, klangen über Nacht ab und verschlimmerten sich beim Laufen. Meine Mitbewohner in der Pilgerherberge, Hans-Dieter, der Power-Pilger, der täglich mehr als 30 km lief, und Hannes, der Fahrrad-Pilger, der über einen unerschöpflichen Fundus an Pilgererfahrungen verfügte, wollten mich unbedingt zum Arzt schicken. Aber ich blieb stur, kaufte Panthenol-Spray und Quark. Hannes und Hans-Dieter, beides Herren deutlich jenseits der Sechzig, boten an, mir die Quarkwickel zu machen. Ich lehnte dankend ab. Dann kamen Frank und Inge vom Essen heim. Frank sagte: „Inge ist Krankenschwester, die macht Dir die Quarkwickel.“ Erneut lehnte ich ab: „Vergesst es, Ihr habt Urlaub. Ich kriege das selber hin.“ Ich gebe zu, es ist wirklich schwierig, sich alleine Quarkwickel auf die Waden zu legen: Im Sitzen rutschen die Wickel runter, und in Bauchlage benötigt man akrobatisches Talent, um die Quarkwickel zu platzieren. Aber schließlich fand ich eine Lösung - für die Rückenlage: Isomatte ausrollen, Plastiktüte drüber legen, zwei Häufchen Quark aufbringen, mit den Waden in den Quark legen und - genießen.

 

Datum: 03.09.2015, Strecke: Bautzen – Panschwitz-Kuckau, Entfernung: 20 km, Wetter: weit über 20°C, zeitweilig sonnig, zeitweilig leicht bewölkt, abends Regen, Wasser: 3 Liter, Befinden: sehr gut

Am nächsten Morgen war ich wieder alleine unterwegs. Inge und Frank setzten ihre Wanderung auf dem Sächsischen Pilgerweg in Richtung Dresden fort. So schön die Zeit mit ihnen war, ich genoss auch wieder das Alleine-mit-mir-sein. Hans-Dieter, unser Power-Pilger, war schon kurz nach 6 Uhr los, um seine 30-40km zu laufen. Hannes, der Fahrradpilger, konnte sich die meiste Zeit lassen.

 

Auf dieser Tagesetappe gab es für mich eine kleine Sensation: Das Millenniumsdenkmal bei Schmochtitz. Es wurde im Millenniumsjahr 2000 nach Christi Geburt errichtet. Dargestellt sind die Brüder Kyrill und Method, zwei byzantinische Gelehrte und Priester. Es handelt sich jedoch nicht einfach nur um eine Plastik dieser beiden Männer, man findet eine ganze Anlage vor bestehend aus einer geschotterten Fläche, aus der mehrere Granitkreuze unterschiedlich weit hervorschauen und – anscheinend - den Brüdern zustreben. Das ganze Ensemble fügt sich in die Landschaft und lädt zum Verweilen ein. Und diese Einladung nahm ich an! Von einer Bank im Schatten genoss ich den Anblick der beiden, um dann einige Male um die Plastik herumzustreifen und zu fotografieren. Kyrill und Method sind feingliedrig und zart dargestellt, ihre Gesichter wirken freundlich und milde. Fasziniert hat mich aber auch die Sicht auf die Anlage und die Umgebung aus einer für den Besucher eher ungewöhnlichen Perspektive – nämlich vom Standort der beiden Brüder aus betrachtet. Vielleicht versuchen Sie es selbst einmal?

Das Millenniumsdenkmal

Mein Weg führte mich weiter über Storcha und Crostwitz nach Panschwitz-Kuckau. Dort wollte ich in der Zisterzienserinnen-Abtei St. Marienstern übernachten. Bei meiner telefonischen Ankündigung, hatte die Schwester am Telefon gesagt: „Sie melden sich bitte an der Klosterpforte.“ Das tat ich auch. Erwartet hatte ich eine Unterbringung in einer alten, dunklen, etwas muffigen Zelle in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Ordensschwestern. In meinem Hirn waberte die Vorstellung eines Klosters wie in „Der Name der Rose“ umher. Tatsächlich befindet sich die Pilgerwohnung im rückwärtigen Teil des Gebäudes der Freiwilligen Feuerwehr des Klosters Marienstern mit Blick auf den Parkplatz. Romantisch klingt das nicht. War es auch nicht. Aber die Pilgerwohnung war sehr sauber, zur Begrüßung stand ein Schälchen mit frischen Birnen da, und an die Bedürfnisse der Pilger war gedacht worden: Wäscheständer, Fußwaschschüsseln, … Außerdem gab es noch genug Lebensmittel, die andere Pilger dagelassen hatten. Und das Schöne: Ich war nah dran am Kloster und am Klosterleben und konnte beim abendlichen Spaziergang über das Klostergelände die Atmosphäre in mich aufsaugen, frühmorgens die Heilige Messe besuchen und danach im Klosterhof die friedvolle Stimmung zu Tagesbeginn genießen und fotografisch festhalten.

 

Datum: 03.09.2015, Strecke: Bautzen – Panschwitz-Kuckau, Entfernung: 20 km, Wetter: weit über 20°C, zeitweilig sonnig, zeitweilig leicht bewölkt, abends Regen, Wasser: 3 Liter, Befinden: sehr gut

 

Über Nebelschütz ging es nach Kamenz. Ich gebe zu, obwohl ich seit etwas mehr als 17 Jahren in Dresden lebe, war ich noch nie zuvor in Kamenz. Erkenntnis des Tages: Kamenz ist einen Besuch wert! Ich entdeckte malerische Gassen, aber auch die Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrationslagers. Ich verließ Kamenz über den Hutberg mit dem Lessing-Turm und lenkte meine Schritte an Feldern entlang Richtung Schwosdorf.

 

Am Ortseingang von Schwosdorf stellte ich mich wegen eines kurzen, aber heftigen Regenschauers unter einen Baum mit dichtem, schützendem Blätterdach. Mit mir gemeinsam wartete eine alte Frau das Ende des Regens ab. Ich fragte sie, ob es hier in der Nähe Birnenbäume gäbe. Ich hatte zwar viele Apfelbäume gesehen, bin aber gegen Äpfel allergisch. Sie meinte, Birnenbäume gäbe es keine, aber sie habe mehrere Stiegen Birnen von ihren Verwandten geschenkt bekommen. Sie würde sich auf ihr Fahrrad setzen, Birnen für mich holen, mir hinterherfahren und mir die Birnen bringen. Ehe sie mit ihrem Rad verschwand, rief ich ihr noch hinterher, dass ich nicht schwer tragen könne und wirklich nur 2-3 Birnen möchte. Als ich mitten im Ort war, holte die alte Dame mich ein und schenkte mir eine schöne Schale Birnen. Natürlich waren es deutlich mehr als 2-3. Na gut, dann sollte das eben mein Abendessen und mein Frühstück sein.

 

Ursprünglich hatte ich die Absicht, an diesem Nachmittag noch ein paar Kilometer weiter zu laufen, vielleicht bis Reichenau. Doch es kam anders. Schuld daran, dass ich in Schwosdorf übernachtete, war das Licht: Wie schon erwähnt, hatte es kurz zuvor geregnet, und nun schien die spätnachmittägliche Sonne auf die weinbewachsene Fassade des Wal- und Wüsteberghauses, in dem sich das Pilgerquartier befindet. Die Sonne zauberte eine wunderbare Lichtstimmung auf die Wand mit den blauen, schon fast reifen Trauben. Der Herbergsvater lud mich ein, von den Trauben zu kosten, wir unterhielten uns ein Weilchen über seine letzte Reise und mein nächstes Reiseziel. Dann gab er mir den Haustürschlüssel mit der Bitte, ihn am nächsten Morgen beim Nachbarn in den Briefkasten zu werfen und verschwand nach Dresden. Ich hatte das gesamte, sehr schön sanierte und anheimelnde Haus für mich allein. Die Küche war mit Vorräten gut gefüllt. So viel Vertrauen hat mich beeindruckt!

 

Wein am Wal- und Wüsteberghaus

Datum: 05.09.2015, Strecke: Schwosdorf - Königsbrück, Entfernung: 10 km, Wetter: ca. 20°C, bedeckt, leichter Regen, Wasser: nicht der Rede wert, Befinden: sehr gut, verbunden mit den ersten Zeichen von Vorfreude auf Daheim

Die letzte Tagesetappe hat diesen Namen nicht wirklich verdient: Nur 10 Kilometer! Durch den Wald ging es nach Reichenau und weiter nach Königsbrück. Dort warf ich durch das verschlossene Tor einen Blick auf das Schloss und begab mich in die Hauptkirche. Diese war für eine Taufe hergerichtet. Ein Mann kam auf mich zu, offensichtlich der Küster. Er fragte mich: „Du bist doch Pilgerin?“ Ich bejahte. Er sagte, er gäbe jedem Pilger etwas mit: „Da ein Pilger aber nicht schwer tragen kann, machen wir jetzt Folgendes. Wir stellen uns gemeinsam ins Kirchenschiff und blicken zum Altar.“ Das taten wir. Dann nahm er meine Hand und sang ein Lied für mich. Muss ich erwähnen, dass mir das zum ersten Mal in meinem Leben geschah? Ein erhabener und gleichzeitig etwas verlegener Moment. Auf jeden Fall einer, der lange in Erinnerung bleiben wird!

In Königsbrück

 

Fazit

Das Abschalten vom Alltag hat erstaunlich gut funktioniert. Ein Gewinn war dieses Zeit-für-sich-haben. Ein Freund von mir meinte, als ich ihm von meiner Pilgerwoche erzählte, 100 km in 6 Tagen – das sei ihm zu langsam. Das kann ich nicht bestätigen - ganz im Gegenteil: Gerade das langsame Vorankommen öffnet die Augen dafür, das Besondere hinter scheinbar Alltäglichem zu entdecken und ermöglicht ein intensives Erleben der Strecke. Nicht nur die Sehenswürdigkeiten im klassischen Sinne wie Kirchen, Denkmäler oder Aussichtsturm habe ich bemerkt, sondern eben auch die Schlehen am Baum, die Gräser im Wind, die Hufabdrücke auf dem Feldweg, das kleine Körbchen mit Tomaten für vorbeiziehende Pilger am Gartenzaun…

 

Karte: Der Verlauf des Ökumenischen Pilgerweges (im Kasten: die beschriebene Tour)

 

Tagesetappen dieser Tour: Görlitz – Arnsdorf – Gröditz – Bautzen – Panschwitz-Kuckau – Schwosdorf – Königsbrück, Gesamtstrecke: ca. 100 km, Dauer: 5 ½ Tage

 

An- und Abreise: Regelmäßige Direktverbindungen mit Regionalbahn bzw. Regionalexpress bestehen zwischen Dresden und Görlitz. Im Stundentakt verkehrt die Städtebahn zwischen Dresden und Königsbrück.

 

Literatur

 

Der Ökumenische Pilgerweg durch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. hrgsn. vom Ökumenischen Pilgerweg e.V. ISBN 978-3-9811156-4-2 (Preis: 12 EUR einschl. Pilgerausweis)

 

Im Internet: www.oekumenischer-pilgerweg.de

 

Wanderkarte: Ökumenischer Pilgerweg Görlitz – Vacha. Teil 1 Görlitz – Leipzig. ISBN 978-3-89591-152-1 (Preis: 7,90 EUR)