Ausgangspunkt unserer Tour im Februar 2019 ist Irkutsk, Universitätsstadt, 600.000 Einwohner zählend, 8.000 Kilometer von zuhause entfernt, bekannt durch seine schönen alten, mit Schnitzereien verzierten Holzhäuser. Die ältesten von ihnen stecken bereits bis zum Fenstersims in der Erde. (Die Einheimischen sind sich uneins, ob die Häuser aufgrund schlechter Fundamente gesunken sind oder ob das Straßenniveau durch das Aufbringen immer neuer Belagschichten angehoben wurde.) Auf den Straßen und Plätzen der Stadt schallt Popmusik aus Lautsprechern. In Cafés, Restaurants, Geschäften läuft der Fernseher, er dröhnt uns mit russischer Pop-Musik zu und liefert dazu Bilder sich windender Sänger oder sich aneinander anschmiegender Paare.
Von Irkutsk geht es mit der Transsib in siebenstündiger Fahrt um die Südspitze des Baikalsees herum - nach Ulan-Ude, der Hauptstadt Burjatiens. Es wird eine Fahrt mit viel Sonnenschein durch die verschneite, sibirische Landschaft. Der Zug ist fast leer. Unsere Pulkas belegen zwei der oberen Schlafplätze im Sechser-Abteil.
Auf die Bahnreise folgen drei Stunden Autofahrt. Dann erreichen wir den zugefrorenen Baikalsee. Wir beladen die Pulkas mit der Ausrüstung für drei Tage auf dem Eis: Proviant, Zelte, Kocher, Feuerholz sind ebenso dabei wie ein langer Eisbohrer. Dieser soll uns den Weg durch das bis zu einem Meter starke Eis des Baikalsees zu unserem Trinkwasser bahnen.
Schon beim Start unserer Eisquerung im Örtchen Gremjatschinsk am Ostufer des Baikalsees erkennen wir unser Ziel auf der Westseite des Sees, die Insel Olchon. Das wird drei Tage so bleiben. Ein GPS ist zwar dabei, aber nicht erforderlich. Wir laufen auf Sicht.
In der Nähe des Ostufers ziehen wir unsere Pulkas noch durch Schnee. Bald darauf laufen wir über Blankeis, welches zwischen Grau- und Blautönen wechselt und bis zu tiefem Schwarz reicht. Letzteres ist bodenlos und glasklar. Es scheint mir, als liefe ich in großer Höhe auf einer Glasplatte. Jeder Schritt kostet mich Überwindung. - Ich habe Höhenangst! Auf dem Eis!
Das Eis ist so glatt, dass mich meine Pulka seitlich überholt – und mir einige Male schmerzhaft in die Waden fährt. Gelegentlich wird das Blankeis durch Streifen von Packeis unterbrochen. Das zwingt uns, unsere Pulkas durch das Gewirr aufragender Eisplatten zu navigieren. So manche Pulka gerät dabei in Schieflage und fällt um. Gut, dass unser Gepäck auf der Pulka verzurrt ist!
Drei Tage sind wir auf dem Eis unterwegs – ungefähr 75 Kilometer weit. Nach den ersten 25 Tageskilometern bin ich platt, denn die Belastung ist ungewohnt: Ein Tagesrucksack auf dem Rücken, die vollbeladene Pulka im Schlepptau und Grödeln an den Füßen. Insbesondere letztere fordern ihren Tribut: Die Fortbewegung ist mehr ein Steigen denn ein Laufen.
Drei Tage lang staunen wir über nie zuvor gesehene Eisstrukturen, Eisverwerfungen, Spalten und Risse. Und unsere Trekkingstöcke erzeugen beim Aufkommen auf dem Eis immer neue Risse. Wir genießen die Sicht über die Eiswüste des Baikal, auf Mount Shima (1.274 m) auf der Insel Olchon und auf die Halbinsel Heilige Nase, deren höchste Erhebung 1.877 m beträgt. Die Geräusche des Sees lassen uns den Atem anhalten: Der Baikal ächzt, der Baikal grummelt, der Baikal donnert.
Drei Tage auf dem Eis, das heißt für mich auch: Zweimal mein Zelt aufbauen. Zunächst brauche ich Löcher für die Heringe. Dazu muss ich eine Eisschraube mit der bloßen Hand eindrehen. Wenn der Winkel nicht stimmt, platzt das Eis ab, und das Bohrloch ist nicht tief genug. Mehrere Male drehe ich die Schraube raus und entferne den Bohrkern. Mein Handteller schmerzt. (Ich hasse Eisschrauben!) Irgendwann sind die vier Löcher gebohrt, und ich kann das Zelt mit den Heringen, die hier schlanke Holzscheite sind, im Eis verankern. - Die beiden Nächte im Zelt sind nicht wirklich erholsam. – Es ist hart. (Natürlich!) Es ist kalt. (Natürlich!) Aber warum knackt der Baikal immer unter meinem Zelt?
Wir sind Ende Februar auf dem Baikal. Nach einer langen Kälteperiode mit Temperaturen um die minus dreißig Grad, ist es nun deutlich wärmer geworden: Nachts fallen die Temperaturen nicht unter minus zwölf Grad, in der Mittagssonne schwitzen wir für kurze Zeit sogar bei leichten Plusgraden. Aber gerade beim Aufstehen und Schlafengehen ist es doch so kalt, dass wir keine Lust auf ausgiebige Morgen- und Abendwäsche haben und die Körperhygiene deutlich herunterfahren. Glücklicherweise riecht man das bei frostigen Temperaturen nicht.
Bereits vor dem Abflug aus Deutschland bewegte mich die Frage, wie das mit den Toilettengängen auf dem Eis ist. Schließlich sind wir in einer Gruppe unterwegs. Das Gelände ist absolut eben. Es gibt keine Hügel, keine Senken, keinen Baum, keinen Strauch, keine Steine. Die Fernsicht ist hervorragend. Und eine Packeisformation ist genau dann nicht da, wenn man sie sich als Sichtschutz wünschte. Was tust Du? – Genau! Du nimmst Deine Rolle Toilettenpapier und entfernst Dich ein Stückchen von der Gruppe. Ob 20, 200 oder 2000 Meter, das liegt an Dir.
Am Abend des dritten Tages erreichen wir die Küste von Olchon, genauer: die Nordspitze der Insel, das Kap Choboi. Mächtige Packeisfelder in Ufernähe und eine vereiste Steilküste begrüßen uns. Der Frost hat der Steilküste ihre felsige Schroffheit genommen und eisige weiße Kleckerburglandschaften entstehen lassen.
Vom Kap Choboi bringt uns ein UAZ, ein russisches Allradfahrzeug, benannt nach den Anfangsbuchstaben seines Herstellers, dem Uljanowskij Awtomobilnui Zawod, über das Eis nach Chushir, dem Hauptort der Insel Olchon. Während der Fahrt erleben wir einen zauberhaften Sonnenuntergang am Baikal. Allerdings wird dieser Genuss ständig unterbrochen, denn unser russischer Fahrer kennt keine Gnade und brettert mit Tempo 90 über das Eis. Mehrmals hebt es uns aus den Sitzen und die Köpfe der Mitreisenden stoßen ans Dach des Minibusses.
Im Quartier in Chushir, einer einfachen Herberge, liege ich spätabends auf dem Bett und habe Gelegenheit, in meinen Körper hineinzuhören: Hüftabwärts summt alles. Die Gelenke an Hüfte, Knie und Knöchel schmerzen und ganz besonders die Fußsohlen.
Was folgt, sind vergleichsweise erholsame Tage am Baikalsee – mit Sonnenauf- und Sonnenuntergängen am Schamanenfelsen, dem Besuch einer Stupa auf der kleinen Baikal-Insel Ogoi, rasanten Autofahrten auf der offiziellen Eisstraße (ausgestattet mit Verkehrsschildern wie „Achtung, Rutschgefahr!“), und ihren inoffiziellen Schwestern (ohne Verkehrsschilder) - und einer kräftigen Prise Postsozialismus in den kleinen Ortschaften am Ufer des Sees.
Dies war meine zweite Reise an den Baikalsee. Sie hat den Eindruck der ersten – hochsommerlichen – Reise noch übertroffen! Fazit: